Kortison – Fluch oder Segen

Das erste Mal, als ich erfuhr, dass ich immer mal wieder mit hohen Dosen an Kortison zu tun haben würde, ging das totale Horror-Kino in mir los. Das war unmittelbar nach meiner Diagnose. Ich muss kaum erwähnen, dass mir keine:r der Superfachärzt:innen erklärt hätte, was das ist, was das bedeutet, was es wirklich macht. So musste ich mich im ersten Schritt auf meine Phantasie verlassen. Und meine Phantasie ist durchaus lebhaft – und morbide zugleich.

Im zweiten Schritt habe ich mich auf Geschriebenes und Erzähltes im Internet berufen. Das war wiederum noch viel Schrecklicher als das, was meine Phantasie hervorzubringen im Stande ist. Uff.

Kortison – was man so liest und hört

Eine „tag-cloud“ aus allen meiner Quellen (also Phantasie/Internet/Hörensagen/Literatur) hätte dann wohl so Schlagworte wie: schwemmt aufzerstört Zellmembranenschwächt das Immunsystemmacht Osteoporosemacht Diabetesmacht Depressionenzersetzt Muskelgewebe ––– oder kurz: macht dich völlig kaputt.

Also: weg mit dem ganzen Gequatsche und Zerdenke – ich musste es erstmal selbst erfahren. Spüren, was es mit mir macht. Was es mit meinem Körper macht. Wie es sich anfühlt.

Fünf aufeinander folgende Tage, intravenös, je 1000mg. Das’s schonmal viel. (Manchmal sind es auch 3×1000, manchmal 5x2000mg, man testet sich das auch gerne mal durch…)

Kortison – eine komplexe Substanz

Was das ist – letztlich nämlich ein körpereigenes Hormon, das unser Körper wohldosiert und bedarfsgerecht in einem komplexen Regelsystem selbst ausschüttet – werde ich nicht gesondert erörtern. Weil das andere viel besser können. Wer daran interessiert ist, wird viel wissenschaftlichen Lesestoff dazu finden.

Kortison – meine Erfahrungen

Wie ich es individuell erfahren habe, wie ich es empfinde, was das Kortison mit mir macht, schreibe ich hier nieder. Mehr nicht. Nichts allgemein Anwendbares. Keine Referenz. Keine Empfehlung.

Oder doch, eine Empfehlung vielleicht: Ruhe bewahren – und eigene Erfahrungen machen. Das gilt ja für das meiste im Leben. Und für mich haben sich meine eigenen Erfahrungen mit Kortison als das für mich Sinnvollste erwiesen. Betonung liegt hier wirklich auf für mich – und vielleicht eben nicht auf dich übertragbar. Bitte bedenke das – denn ich weiß im Grunde nichts. ;-)

Schub – Schub – Schub

Ich glaube inzwischen verstanden zu haben, dass meine MS-Schübe „lang-angebahnt“ verlaufen. Über Wochen! Und eher ganzheitlich. Über alle Bereiche in meinem Körper! Mein Gleichgewichtssinn nimmt schleichend ab – bis ich einfach mal aus voller Länge (ich bin 1,94 m) auf den Boden klatsche und mir die Hand breche (so ist es ja neulich passiert). Meine Gangfähigkeit reduziert sich so peu á peu – bis ich kaum mehr ohne Stützen jeder Art kurz in die Küche komme. Meine Konzentrationsfähigkeit nimmt ab, meine Fatigue wiederum stark zu – bis ich kaum den Vormittag überstehe. Fingerspitzen, Hände, Arme – alles.

Aber auch meine Laune geht immer weiter runter. Genervt von Allem. Von Jedem. Alles ätzend! Alltag ist nur noch Belastung. Essen ist nur noch Notwendigkeit. Freude anstrengend. Lachen reines Krafttraining. Entschuldigung, aber – alles richtig scheiße!

Und das alles ganz schleichend, fast unbemerkt, immer ein bisschen mehr hier, ein bisschen weniger da, bis ich das Gefühl habe, dass gar nichts mehr geht.

Ein Gefühl der Wende

Das ist der Moment, wo ich mich entscheide für: Kortison. Ich rufe meinen Arzt an. Der ist klasse, hört mir zu, vertraut mir und ich ihm. Besser geht das nicht. Und ich sage ihm einfach, was ich mir wünsche und es mal wieder so weit ist. Und ich weiß, er schickt mich nicht erstmal ins MRT und checkt mein Nervenimpulsweiterleitungsgeschwindigkeits-Pipapo – nein. Er kommt zu mir nach Hause und hängt mich an den Tropf. Und dann sehen wir, was passiert. Und das finde ich gut.

Die Medizin ist großartig, wenn und weil sie fundiert und beweisbar und mit Theorien und Studien unterfüttert ist und für Fortschritt sorgt. Der Arzt oder die Ärztin ist großartig, wenn und weil er oder sie praktisch ist, pragmatisch handelt und das Bedürfnis des behandelten Menschen individuell erkennt und eine Lösung herbeiführt.

Alles wird besser

Es geht mir besser – schlagartig. Klar, Kortison pusht, total! Das ist besser und anhaltender als jede Designer-Droge (glaub ich). Daher kann alles auch nur ein kurzer positiver Effekt sein. Dennoch, von Fatigue spüre ich erstmal nichts mehr. Aber auch die Missempfindungen und die Taubheit in allen möglichen Körperbereichen nehmen ab.

Alles fällt ab, als würde ich monatelang ein schweres Ritterkostüm mit Gesichtsvisier umgeschnallt gehabt haben, das mich bewegungslos und schwer und träge gemacht hat. Und dann ziehe ich es aus, lege alle Stahlplatten ab, reiß’ mir das Visier mit Helm vom Kopf, schmeiß’ alle Ledergurte und klappernden Schnallen in die Ecke. Und bin frei. Leicht. Inspiriert und gut gelaunt. Ich strahle und kann wieder los.

Und jetzt?

Da bin ich jetzt. In all den letzten Wochen, fast Monaten steckte ich in diesem Schub. Gestern Kortison. Jetzt schreibe ich. War in den letzten Wochen gar nicht dran zu denken.

Ok. Gut. Alle Bedenken mit diesem Kortison – und auch noch in solch hohen Dosen – die natürlich auch ich habe – schiebe ich einfach beiseite. Sei’s drum.

Und lass’ es mir jetzt einfach mal etwas gut gehen.

5 Antworten auf “Kortison – Fluch oder Segen”

  1. verstehe ich vollkommen. Cortison ist eine Superwaffe, die man natürlich nur im Notfall einsetzten soll – aber was so ein Notfalll ist, muss der Patient selbst entscheiden und mit dem Arzt abklären. Möge der jetzige „positive Schub“ eine gute Weile anhalten und dir Erleichterung bringen!

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  2. Hallo!
    Jetzt erst geschnallt, dass du auch einen blog hast … 🙈😬 – Cortison ist Fluch und Segen… wenn man die richtigen Leute um sich herum hat, ist das super. Ich merke aber selbst… je mehr Einschränkungen kommen, desto intoleranter , mürrisch und manchmal sich ungerecht werde ich …
    Das ist auch MS 😉
    Alles Gute wünsche ich !
    Deine Christine

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  3. 🙋‍♂️
    Interessanter Bericht. Bei meinen bisherigen Kortisongaben führte es eher zu einer Verschlechterung meiner Symptome. Missempfindungen, Taubheit, Gleichgewicht und anderes verschlimmerte sich eher. Ich währe mir aktuell nicht sicher, beim nächsten Schub wieder Korti zu nehmen 🙋‍♂️

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  4. Lieber Farouk, ich leide nicht an MS, sondern seit 1977 an Morbus Crohn. Habe über ein Jahr lang Kortison bekommen. Es sollte die Darmentzündungen stoppen. Hat nichts gebracht, außer Nebenwirkungen: Haarausfall, Zahnwurzelvereiterungen, Mondgesicht etc.
    Bei jedem Menschen wirkt es anders. Sicher ist es für viele Dinge sinnvoll und notwendig. Lass Dich darauf ein. Du hast keine Wahl. Ich konnte mir den kranken Darmabschnitt entfernen lassen. Du musst Dich auf Medikamente verlassen. Ich wünsche Dir himmlischen Beistand und Vertrauen und Stärke für Dich. LG Gisela

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